Geister Krimi - 024 - Kalter Tod durch heiße Flocken.rtf

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Kalter Tod durch heiße Flocken

Kalter Tod durch heiße Flocken

 

Andreas Hathaway

 

Die blauschwarzen Wolken hingen wie ein bleierner Sargdeckel über dem Tal von Kilroy. Die steil ansteigenden Berge bildeten die Seitenwände des »Sarges«.

Die Wolken fielen in das Tal ein der Deckel klappte zu. Die fünfhundert Einwohner von Kilroy saßen in der tödlichen Falle. Ein lauer Junitag verwandelte sich in eiskalten Winter. In dichtem Gestöber schwebte der Schnee auf die grüne Erde herunter.

Die Menschen liefen aus ihren Häusern und staunten über die Laune der Natur. Sie breiteten die Arme aus und hoben die Gesichter zum Himmel, um die überraschende Winterpracht aufzufangen.

Eine zartgebaute junge Frau schrie auf. Einige Dutzend Menschen fielen in ihr Schreien mit entsetztem, heiserem Gebrüll ein. In Sekundenschnelle wurde aus eben noch fröhlichen, durcheinander rufenden Männern und Frauen ein Haufen zuckender, sich auf dem Boden windender Körper.

»Zurück in die Häuser!« schrie der Wirt, dick und stämmig und rund. »Rettet euch in die Häuser!«

Die meisten schafften es, und sie beob­achteten mit leichenblassen Gesichtern durch die Fensterscheiben die wenigen ihrer Mitbürger, die zu schwach gewesen waren, um den Schutz der Gebäude zu erreichen.

Sie wurden von den riesigen Schneeflocken eingehüllt und zersetzt. Wie schärfste Säure fraßen sich die Flocken in die Haut der Opfer, verätzten Gesichter, schmolzen Gliedmaßen weg. Auf der Dorfstraße floß Blut, vermischte sich mit dem Weiß des grauenhaften Schnees und verdampfte.

Ein Mann streckte hilfesuchend seine Hand gegen das Gasthaus aus. Eine tellergroße Schneeflocke senkte sich lautlos auf seinen Unterarm. Der handlose Stumpf ragte anklagend aus dem bis auf die Knochen aufgelösten Rumpf.

Eine Frau wollte fliehen. Sie geriet an eine Stelle, an der kniehoch Schnee lag. Sie watete hinein und wankte auf der anderen Seite auf den Oberschenkeln wieder heraus. Die Beine waren bis auf die Knie hinauf weggeätzt. Die Frau verlor das Gleichgewicht, stürzte nach vorne und stützte sich auf die Hände. Zischend schmolz der Schnee unter ihr und mit ihm ihre Arme. Der arm- und beinlose Rumpf löste sich in wenigen Sekunden in Nichts auf.

Als von den Menschen im Gasthaus die Erstarrung abfiel, ging ein Aufstöhnen durch die Versammelten.

»Das muß dieser Teufel mit seinem Leben bezahlen!« knirschte ein bulliger Mann.

»Richtig, er muß sterben, dieser Masters«, schrie sein Nachbar und griff nach einem scharfen Messer. »Rick Masters muß sterben!«

 

 

*

 

Zwei Tage nach diesen Ereignissen saß Rick Masters in seinem Wohnbüro. Es befand sich oberhalb des ältesten Cafes von London in demselben Gebäude wie das Lokal. Nur durch einen sehr günstigen Zufall hatte der junge Londoner Privatdetektiv diese Wohnung in der City vor wenigen Jahren bekommen können, und er hatte sie in seinem ganz persönlichen Stil eingerichtet geschmackvoll, aber durch eine geplante Unordnung gemütlich gemacht.

Es war zehn Uhr abends.

Die Fenster der Wohnung standen weit offen und ließen den lauen Frühsommerwind ins Zimmer. Die Gardinen bewegten sich leicht unter dem Lufthauch, mit dem Gesprächsfetzen von den Gästen des Cafes hereindrangen. Doch Rick Masters achtete nicht darauf, was die Leute auf der Straße besprachen. Wahrscheinlich beschäftigten sie sich mit demselben Thema, das auch ihn seit 24 Stunden brennend interessierte. Schließlich sprach in ganz Großbritannien kein Mensch mehr von etwas anderem, und auch in den übrigen Ländern hatten die schrecklichen Vorfälle im Tal von Kilroy Panik ausgelöst. Die einen sprachen von einem katastrophalen Ausmaß an Luft- und Wasserverschmutzung, die normalen Schnee bereits in lebensgefährliche Säu­rekristalle verwandelte. Die anderen meinten, es wären Auswirkungen von Atomversuchen, Atomreaktoren und anderen Dingen, die breiten Kreisen der Bevölkerung unheimlich erschienen.

Rick Masters, einen der Sonderberichte über Kilroy vor sich auf dem Schreibtisch, wußte, daß keines der beiden Phänomene in Frage kam. Dazu kannte er sich zu gut in diesen Dingen aus. Seiner Meinung nach konnte es sich nur um wissenschaftliche Versuche, möglicherweise militärischer Natur, handeln, die schiefgelaufen waren. Man hätte sicherlich nicht absichtlich die Zivilbevölkerung einer Gefahr ausgesetzt.

In seiner Ansicht, daß geheime Stellen dahinterstecken, wurde Rick Masters durch einen besonderen Umstand bestärkt. Seit einigen Jahren wurde er von Scotland Yard und Secret Service zur Aufklärung geheimnisvoller Fälle herangezogen, bei denen entweder bisher nicht bekannte Phänomene auftraten, oder bei denen das Wirken einer übernatürlichen Kraft vermutet wurde. Das traf offensichtlich in Kilroy zu, und doch hatten sich weder Scotland Yard noch Secret Service bei ihm gemeldet.

Rick Masters strich sich durch die widerspenstigen, blonden Haare und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Sollte er vielleicht auf eigene Faust Untersuchungen in Kilroy anstellen? Im Augenblick lag kein dringender Fall an, und diese sonderbaren Schneeflocken, die den kalten Tod brachten, interessierten ihn, aber...

Der junge Privatdetektiv wurde in seinen Überlegungen durch das melodiöse Anschlagen des Türgongs gestört. Seufzend stand er auf, zerstieß seine Zigarette in dem schweren Onyxaschenbecher und ging zur Tür.

Eine seltsame Frau stand Rick gegenüber. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet Der Figur nach zu schließen war sie noch jung, sehr jung sogar, und auch ihre Bewegungen wirkten jugendlich kraftvoll und geschmeidig, als sie, ohne auf eine Aufforderung zu warten, Ricks Wohnbüro betrat.

Der Detektiv schlug die Tür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Erstaunt musterte er seine Besucherin. Ihr Kleid, das sich eng um die Hüften spannte, reichte nur bis zu den Knien. Darunter trug sie schwarze Strümpfe. Um den Oberkörper hatte sie ein großes dreieckiges Tuch geschlagen, unter dem sie die Hände verborgen hielt. Den Kopf bedeckte ein breitkrempiger Hut, der beinahe schick gewirkt hätte, wäre der Schleier nicht gewesen.

Der Schleier!

Rick hatte schon bei vielen Frauen, die Trauer trugen, einen Schleier gesehen, aber noch bei keiner einen so dichten. Er konnte durch den mehrfach gelegten hauchdünnen Stoff hindurch nichts von ihrem Gesicht erkennen. Es erleichterte ihn nur, daß er eindeutig eine Frau vor sich hatte. Wäre ein Mann auf gleiche Weise in seine Wohnung eingedrungen, hätte das sicherlich Ärger bedeutet.

»Wollen Sie mir nicht erklären, was das alles soll?« fragte der junge Privatdetektiv endlich ein wenig ungeduldig, als die Fremde schweigend einige Schritte von ihm entfernt in der Zimmermitte stehen blieb. Er fühlte ihren Blick auf sich gerichtet, obwohl er ihre Augen nicht sehen konnte. »Sie müssen doch selbst zugeben, daß Sie sich nicht an die allgemeinen Spielregeln für Besucher nach zehn Uhr abends halten, Madam.«

»Natürlich sollen Sie alles erfahren, Mr. Masters«, sagte eine helle, klare Stimme, die einer sehr jungen Frau gehörte. Er hatte sich also in seiner Einschätzung nicht geirrt. »Es wundert mich, daß Sie so überrascht sind. Eigentlich hätten Sie mich oder einen anderen von uns längst erwarten müssen.«

Masters ging die drei Stufen, die von der Eingangstür in das kleine Büro führ­ten, hinunter, bis er dicht vor dem Mädchen stand.

Ihre linke Hand tauchte unter dem Tuch auf. Sie steckte in einem schwarzen Handschuh. Mit einem Ruck riß sie den Schleier vom Gesicht.

Rick Masters taumelte mit einem Aufschrei zurück.

Er starrte in ein entstelltes, vollkommen zerfressenes Gesicht, das mit einem menschlichen Antlitz keine Ähnlichkeit mehr hatte.

 

 

*

 

Scotland Yard hatte sich bereits am Tag nach dem tödlichen Schneefall in die Untersuchungen in Kilroy eingeschaltet. Das war ein Fall, der weit über die örtlichen Dienststellen hinausreichte und alle für das öffentliche Wohl verantwortlichen Ämter alarmierte.

Als erste Maßnahme hatte Chefinspektor Kenneth Hempshaw, der persönlich die Ermittlungen leitete, eine totale Sperre über das Tal verhängt. Polizeieinheiten aus dem Umkreis und aus den benachbarten Städten riegelten den Eingang zum Tal hermetisch ab, was insofern sehr leicht war, als es nach Kilroy nur eine Zufahrtsstraße gab. Auch zu Fuß konnte man das Tal nur an einer Stelle verlassen, nämlich durch eine Schlucht, durch die auch die Straße verlief. Die das Tal umgürtenden Felswände waren zwar nicht hoch, aber so steil, daß sie nur von einem geübten Bergsteiger überklettert werden konnten.

Da man sich einem bisher noch nie dagewesenen Phänomen gegenübersah, wurde beschlossen, die Opfer des mysteriösen Schnees nicht in öffentliche Krankenhäuser zu überführen. Für die Behandlung der Einwohner von Kilroy wurden Ärzte und Schwestern herangebracht. Eine Pioniereinheit schlug Zelte auf, die innerhalb weniger Stunden in modernste Krankenstationen und Labors verwandelt wurden. Allerdings es gab nichts zu behandeln.

Chefinspektor Kenneth Hempshaw hatte Dr. Sterling, seinen langjährigen Mitarbeiter, Arzt der Mordkommission, mitgebracht. Sie saßen an diesem Abend gegen zehn Uhr in dem einzigen Pub des Dorfes, zwei Gläser mit Schwarzbier vor sich auf dem kleinen Tisch.

»So unwahrscheinlich es klingt«, sagte Dr. Sterling und warf dem Chefinspektor einen scharfen Blick über den oberen Rand seiner Brille zu, »aber wir Ärzte können für die Verletzten absolut nichts tun.«

Hempshaw schüttelte verständnislos den Kopf. »Begreife ich nicht«, gab er zu. »Menschen mit schwersten Verätzungen liegen in den Zelten. Manchen fehlen ganze Gliedmaßen. Und für diese Leute können Sie nichts tun?«

»Es stimmt.« Dr. Sterling zuckte ratlos die Schultern, was selten vorkam bei seiner reichen Erfahrung. Normalerweise wußte er immer einen Rat. »Die Verletzungen sind vorhanden, wirken sich aber nicht so aus, wie sie es müßten. Die Menschen haben keine Schmerzen, die Wunden bluten nicht, wir haben nichts zu tun.«

»Dieser Mann mit dem einen Bein...«

»Ist von unserem Standpunkt aus völlig gesund.« Dr. Sterling schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten und sich der dicke Wirt erschrocken hinter der Theke duckte. »Die Beinwunde schmerzt nicht, blutet nicht, er ist nicht geschwächt. Wenn wir ihm eine Prothese anschnallen, kann er sofort damit gehen.«

Chefinspektor Hempshaw schwieg einige Minuten, in denen er düster in sein Glas starrte. Dann hob er ruckartig den Kopf. Sein kantiges Gesicht hatte einen harten Zug angenommen. »Keine Fabriken mit schädlichen Abgasen oder Abwässern in der Nähe«, sagte er so laut, daß der Wirt mithören konnte. »Keine Labors, keine Atomreaktoren, keine außer­ gewöhnlichen Vorkommnisse: Und doch schneit es in dieser gottverlassenen Gegend heiße Flocken.« Er verwendete den Ausdruck, den die Zeitungen für den tödlichen Schnee in Kilroy geprägt hatten. »Dr. Sterling, ich glaube, daß dies wieder mit einem Fall zu tun haben, der nicht mit gewöhnlichen Mittel geklärt werden kann.«

Der alte Arzt verzog sein faltiges Gesicht zu einem breiten Grinsen, als er begriff, worauf der Yardmann hinaus wollte. »Sie denken an eine ganz bestimmte Person, nicht wahr?« fragte er erfreut. Er mochte den jungen Detektiv.

»Allerdings«, bestätigte Chefinspektor Kenneth Hempshaw, »Das ist ein Fall für Rick Masters.«

Hinter der Theke zerschellte mit ohrenbetäubendem Klirren eine Whiskyflasche.

Der Wirt hatte sie fallen gelassen.

 

 

*

 

»Kein schöner Anblick, nicht wahr?« sagte die junge Frau. Ihre helle Stimme hatte plötzlich einen scharfen, schneidenden Ton angenommen.

Rick Masters kämpfte um Fassung. Er hatte schon viele durch Unfälle oder Krankheiten entstellte Merischen gesehen und wußte, wie sehr sie Unter dem Erschrecken und dem Abscheu anderer Menschen litten. Immer hatte er sich beherrscht und sich darauf eingestellt, so daß ihm nichts anzumerken war, aber dieses Gesicht war zu schrecklich gewesen.

Gesicht?

Das war kein Gesicht!

Die Haut war vollständig weggebrannt oder -geätzt worden. Das rohe Fleisch lag offen. Jede Ader konnte man erkennen und auch, wie die Wände der Arterien und Venen pulsierten. Die unförmige, rötliche Masse, die einmal ein Gesicht gewesen war, schimmerte feucht von der ausgeschiedenen Wundflüssigkeit. Das Fleisch warf Blasen und Falten und verformte die Züge so stark, daß die bizarrste Phantasie nicht ausreichte, um sich dieses Gebilde des Grauens vorzustellen.

Gleichsam dem entstellten Gesicht zum Trotz, funkelten inmitten der ekligen Masse zwei helle, leuchtende, tiefblaue Augen, in denen eiserner Wille und scharfer Verstand zu erkennen war. Weiche, fein geschwungene Lippen umrahmten zwei Reihen makelloser Zähne, die wie Perlen schimmerten.

Jede Frau hätte sie um diese Augen, die Lippen und die Zähne beneidet, aber...

Rick mußte die Hände zu Fäusten ballen, um das Zittern seiner Finger zu unterdrücken. Kurz entschlossen ging er zu seinem Schreibtisch und riß eine Zigarette aus der Packung. Er besann sich und hielt der jungen Frau die Zigaretten entgegen.

Langsam, mit wohlberechneten Bewegungen, streifte sie den linken Handschuh ab. Rick glaubte es nicht länger aus zuhalten. Glatte Fingernägel waren das einzige, das von der Hand erhalten geblieben war. Die Finger, der Handrücken, das Gelenk die gleiche wunde Masse wie das Gesicht.

Was immer diese Frau auch durchgemacht hatte, es mußte mehr gewesen sein, als ein Mensch bei klarem Bewußtsein ertragen konnte. Wer immer für diesen Unfall oder für dieses Säureattentat oder was es auch gewesen war verantwortlich gemacht wurde, er mußte von dieser Frau wie die Pest gehasst werden.

Langsam griff sie nach einer Zigarette, steckte sie zwischen die gesunden Lippen und ließ sich von Rick Masters Feuer geben. Das Streichholz zitterte in der Hand des Detektivs.

Sie war Nichtraucherin, Rick erkannte es sofort. Bereits nach dem ersten Zug begann sie zu husten. Der Verdacht keimte in Rick auf, daß sie die Zigarette nur angenommen hatte, um unter einem Vor­wand den Handschuh ausziehen zu können. Sie wollte ihm ihre Verstümmelungen zeigen.

Aber warum? »Setzen Sie sich«, sagte er lahm, um die unerträgliche Stille zu unterbrechen. Dabei zeigte er auf die Ledergarnitur im angrenzenden Wohnraum.

Sie deutete an, er solle vorausgehen. Rick wandte der Frau den Rücken zu.

In der Glasscheibe eines Bücherschranks sah er, wie die hinter ihm stehende Frau mit der Hand unter das große Tuch fuhr, das sie um ihre Schultern trug. Als sie die Hand zurückzog, hielt sie ein langes, spitzes Messer umklammert.

Rick Masters fühlte den Luftzug, als sie sich gegen ihn warf.

 

 

*

 

»Schade um den guten Whisky!« rief Dr. Sterling dem Wirt zu, der mit einem Gesicht hinter der Theke stand, als wäre der Teufel persönlich in seinem Pub erschienen. »Sie sollten etwas für Ihre Nerven tun.«

»Merkwürdig«, murmelte Chefinspektor Hempshaw. Er stand auf und ging zur Theke hinüber. »Passiert es oft, daß Sie eine Flasche Whisky fallen lassen?« fragte er scharf.

Der dicke Wirt zuckte zusammen. Er wischte sich die schweißnassen Hände an der Schürze ab.

»Ist doch kein Wunder«, flüsterte er. »Nach dem, was sich bei uns abgespielt hat...«

»Das meine ich nicht.« Chefinspektor Hempshaw hatte Verdacht geschöpft. »Sie ließen die Flasche fallen, als ich einen Namen nannte. Erinnern Sie sich noch?«

»Ich muß in die Küche!« rief der Wirt gequält. '

»Die Küche ist um diese Zeit bereits geschlossen.« Hempshaw ließ nicht locker. »Ich erwähnte Rick Masters.« Er sah.

wie sich das Gesicht des Wirts verfärbte. »Kennen Sie Masters?«

»Ich?« Der Mann zeigte mit unkontrolliert zitternden Fingern auf seine Brust. »Woher sollte ich ihn kennen? Wieso denn? Ich habe ihn nie gesehen. Er ist...«

Hempshaw wurde in seiner Befragung unterbrochen. Ein Konstabler stieß die Tür auf und salutierte vor dem Chefinspektor. »Sie fehlt!« stieß er keuchend hervor.

Ungehalten über die Störung, warf Hempshaw dem Konstabler einen strafenden Blick zu. »Was soll das heißen, sie fehlt!« fauchte er. »Machen Sie ordentlich Meldung! Ich bin Kriminalist, kein Hellseher, Mann!«

»Jawohl, Sir!« Der Konstabler holte tief Luft, dann berichtete er: »Eine junge Frau aus dem Dorf fehlt, Sir. Sie lag in einem der Sanitätszelte, ist aber heimlich ausgerückt.«

»Dann muß sie noch im Tal sein«, kombinierte Hempshaw. »Durch die Sperren kommt sie nicht.«

»Sie ist schon durch«, berichtigte ihn der Konstabler. »Sie wurde gesehen, als sie sich zwischen zwei Posten hindurchschlich, aber sie blieb nicht stehen, als sie angerufen wurde.«

»Na und?« brüllte Hempshaw los. »Wozu haben die Leute Beine? Um zu laufen und verdächtige Personen einzuholen!«

Der Konstabler lief rot an im Gesicht.

»Es ging nicht, Sir. Als die Posten die Frau verfolgen wollten, fiel so dichter Nebel ein, daß sie nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnten. Sie mußten die Suche abbrechen.«

»Nebel?« Der Chefinspektor trat an das Fenster des Pubs und blickte hinaus. »Dr. Sterling, sehen Sie eine Spur von Nebel? Ich jedenfalls nicht.«

»Der Nebel erschien auch nur am Eingang des Tals, Sir«, behauptete der Konstabler.

»Unmöglich«, mischte sich der Wirt ein. »Dort unten an der Schlucht hat es noch nie Nebel gegeben.«

»Sie hören es.« Chefinspektor Hempshaw baute sich vor dem unglücklich dreinschauenden Polizisten auf. »Waren Sie einer der Posten? Ja? Melden Sie sich morgen früh mit den anderen Männern, die für diese Schweinerei verantwortlich sind, bei mir! Ich garantiere Ihnen eine strenge Untersuchung dieses Vorfalls.«

Aufgeregt lief er in dem kleinen Pub auf und ab.

»Name und Beschreibung!«

Der Konstabler zog sein Notizbuch hervor.

»Sie heißt Amy Sulkin, Sir, ist zweiundzwanzig Jahre alt und wurde bei dem Unglück schwer verletzt. Ihr Gesicht und ihre Hände wurden vollständig verätzt.«

 

 

*

 

Rick Masters tat das einzig Richtige in seiner bedrohlichen Situation. Er ließ sich einfach fallen.

Aus dem Mund der jungen Frau erscholl ein schriller Schreckensschrei, als er sich so plötzlich duckte und auf den Teppich rollte. Sie konnte ihren Angriff nicht mehr aufhalten.

Auf dem Boden liegend, sah Rick Masters das Messer, das über seinen Körper hinweg in die Luft stieß. Es hätte sich in seinen Rücken gebohrt und sein Herz getroffen, hätte er nicht im Glas des Bücherschranks gesehen, was sich hinter ihm abspielte.

Das Mädchen wurde durch den eigenen Schwung ein paar Schritte vorwärts gerissen. Sie stieß gegen ihn, taumelte und stürzte neben ihm auf den Teppich.

Sofort schnellte Rick hoch. Seinen inneren Ekel überwindend, packte er ihr Handgelenk und entwand ihr das Messer, das sie bei dem Sturz nicht fallen gelassen hatte. Er brauchte keine Gewalt anzuwenden. Mit dem Angriff, der zu seinem Glück fehlgeschlagen war, war jede Kraft aus dem Körper der Frau gewichen. Reglos lag sie auf dem Boden, fast wie tot. Sie war aber nicht einmal ohnmächtig. Ihre leuchtenden Augen verfolgten jede von Ricks Bewegungen hasserfüllt.

Rick bückte sich, hob die Frau hoch und legte sie auf den breiten gepolsterten Sessel. Sie aber schwang die Beine auf den Boden und richtete sich in sitzende Stellung auf.

Ihre verkrallte Hand streckte sich ihm entgegen, als wollte sie die Luft zerreißen, die sie beide trennte.

»Sie Scheusal!« schrie sie. »Sie Teufel! Sie Mörder!«

Rick Masters war überzeugt, eine Wahnsinnige vor sich zu haben. Während er krampfhaft überlegte, wie er sich am besten verhalten sollte, legte er das Messer auf den Bücherschrank, wo sie es nicht erreichen konnte, dann ging er zur Hausbar und schenkte zwei Whisky ein. Den einen stellte er vor ihr auf den Glastisch, den anderen trank er in kleinen Schlucken. Das Mädchen rührte den Whisky nicht an.

»Eigenartig«, sagte er nach einer Weile leise, um sie nicht zu erschrecken. »Sie kommen hier herein, ich kenne Sie nicht, und plötzlich gehen Sie mit einem Messer auf mich los. Jetzt bezeichnen Sie mich sogar als Mörder.«

Ihre starre Haltung fiel in sich zusammen. Erschöpft sank sie auf dem Sessel zurück. Ein trockenes Schluchzen drang aus ihrer Kehle. »Machen Sie sich nur über mich lustig«, rief sie unterdrückt. »Sie haben kein Gewissen. Natürlich nicht, sonst hätten Sie nie so etwas gemacht.«

»Was hätte ich nicht gemacht?« Ich sollte die Polizei anrufen, damit dieses arme Geschöpf in die Irrenanstalt zurückgebracht wird, aus der es ausgebrochen ist. »Sie scheinen mich zu verwechseln, Miß... Wie ist Ihr Name?«

»Amy Sulkin. Doch das ist Ihnen wohl gleichgültig. Ich bin jedenfalls eines Ihrer

Opfer, das Sie mit Ihren Experimenten ins Unglück gestürzt haben.«

Rick Masters drohte die Geduld zu verlieren.

»Von welchen Experimenten sprechen Sie?« rief er. »Und von welchen Opfern?«

»Heuchler!« gellte es ihm entgegen. »Ich meine die Opfer von Kilroy Ihre Opfer!«

 

 

*

 

»Glauben Sie wirklich, daß Ihre Posten den Nebel nur erfunden haben, um eine Entschuldigung zu haben?« fragte Dr, Sterling, als er sich wieder mit Chefinspektor Hempshaw an den Tisch gesetzt hatte. Sie sprachen jetzt so leise, daß der Wirt nicht mithören konnte, obwohl er lange Ohren machte.

»Auf den ersten Blick scheint es so.« Der Chefinspektor wiegte unschlüssig den Kopf. »Allerdings habe ich in der letzten Zeit so viele unnatürliche Dinge erlebt, daß ich mir meiner Sache nicht mehr so sicher bin. Außerdem habe ich nur zuverlässige Leute an den Ausgang der Schlucht gestellt.«

Der Arzt deutete unauffällig auf den dicken Wirt.

»Er weiß etwas, da bin ich sicher. Sie versuchten doch vorhin, etwas über Rick Masters aus ihm herauszuquetschen. Probieren Sie es noch einmal. Meine Menschenkenntnis...«

»Bleiben Sie mir mit Ihrer Menschenkenntnis vom Leib«, stöhnte Hempshaw in gespieltem Entsetzen. »Ganz Scotland Yard spricht darüber. Und woher beziehen Sie Ihre Menschenkenntnis? Von Leichen!«

Dr. Sterling arbeitete als Pathologe für den Yard. Er war gleichermaßen wegen seines Könnens und wegen seiner spitzen Zunge verschrien. Hempshaw hielt große Stücke auf ihn, was allein schon dadurch bewiesen wurde, daß er ihn zu dieser heiklen Untersuchung mitgenommen hatte, obwohl ihm ein Dutzend erfahrener Spezialisten von der Regierung beigegeben worden war.

»Meine Kenntnis der Leichen«, versetzte der Arzt ungerührt, »ist deshalb so passend für die Lebenden, weil sie sich früher oder später alle in Leichen verwandeln, von denen ein ziemlich hoher Prozentsatz sogar auf meinem Tisch landet. Auf Sie warte ich auch schon seit längerer Zeit, Hempshaw.«

Der Chefinspektor verzog angewidert das Gesicht.

»Ich habe nicht die Absicht, Ihnen diesen Gefallen zu erweisen, Verehrter. Es sei denn, ich bekomme eines Tages einen Herzinfarkt, weil ich mich über Zyniker im Yard ärgern muß.« Er gab sich einen Ruck, stemmte sich von dem harten Holzstuhl hoch und schlenderte zur Theke. Hinter sich hörte er das hohle Kichern des alten Pathologen.

Der Wirt blickte dem Yardmann mißtrauisch entgegen.

»Möchten Sie noch etwas trinken?« fragte er knapp. Am liebsten wäre er in den nach hinten liegenden Privaträumen seines Hauses verschwunden, das konnte man ihm nur zu deutlich ansehen.

»Ein Whisky wäre nicht schlecht«, sagte der Chefinspektor. »Zum Aufwärmen. Kühler Abend heute. Glauben Sie, daß es wieder schneien wird?«

»Schneien?« Der Wirt riß entsetzt die Augen auf. »Sie glauben, daß noch einmal...?«

Das Grauen ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.

Hempshaw zuckte gleichmütig die Schultern.

»Warum denn nicht?« fragte er harmlos. »Schließlich wissen wir nicht, was oder wer dahintersteckt.«

Schlauer alter Fuchs, dachte Dr. Sterling und grinste in sich hinein. Dieser Hempshaw verstand schon sein Handwerk. Er nutzte die Angst des Mannes aus, um sich Informationen zu verschaffen, mit denen größeres Unheil verhindert werden konnte.

Der Wirt wurde kreideweiß im Gesicht. Seine Hände begannen wieder zu zittern. »Ein zweites Mal halte ich das nicht aus«, stammelte er. Dicke Schweißtropfen liefen über sein Gesicht. »Nein, alles, nur das nicht.«

»Dann reden Sie endlich!« fuhr ihn der Chefinspektor hart an. »Sie wissen etwas, das Sie mir nicht sagen wollen! Wenn Sie ein zweites Unglück verhindern möchten, packen Sie aus jetzt und hier!«

Der Wirt starrte den Yardmann einige Sekunden lang an, dann nickte er. »Also gut, ich werde reden. Vielleicht können Sie diesen Teufel unschädlich machen, bevor er ein zweites Mal zuschlägt.«

»Von welchem Teufel sprechen Sie eigentlich? Sie müssen mir schon konkrete Anhaltspunkte geben, wenn Sie wissen, wer den tödlichen Schnee erzeugt hat.«

»Alle in Kilroy wissen es, Sir, alle, aber wir haben Angst. Wir fürchten, daß er sich an uns rächen wird, wenn wir ihn verraten. Und wozu er imstande ist, das haben Sie selbst gesehen. Gehen Sie hinaus in die Sanitätszelte. Wozu sind sie gut? Dazu, daß die höchsten Wissenschaftler des Landes fassungslos den Kopf schütteln können, weil sie keine Ahnung haben, womit sie es zu tun haben. Aber wir haben eine Ahnung.«

Die Worte waren nur so aus ihm herausgesprudelt, und er mußte tief Atem holen, bevor er weitersprechen konnte.

»Vor einigen Monaten ist er hierher gekommen und hat ein altes verfallenes Haus gemietet. Er hat sich uns unter dem Namen Kinber vorgestellt, aber der war so falsch wie der ganze Mann. Alle haben ihn gesehen, wenn er ins Dorf kam, um Lebensmittel zu kaufen. Und alle haben sich vor ihm gefürchtet, weil er so unheimlich war. Ein junger Mann, ja, aber mit dem Auftreten und der Stimme eines Alten.«

»Wer ist dieser Kinber?« Chefinspektor Hempshaw gab Dr. Sterling einen unauffälligen Wink, er sollte sich Notizen machen. »Können Sie ihn näher beschreiben?«

»Und ob ich das kann! Blond, krause Haare, schlank und groß, elegant, wenn auch ein wenig salopp gekleidet. Hellbraune Augen und ein kantiges Gesicht.«

Hempshaw und Dr. Sterling tauschten kurze Blicke. Sie wußten, auf wen diese Beschreibung zutraf.

»Was hat dieser Kinber getan? Erzählen Sie schon, lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«

»Getan? Nichts, das wir Dorfleute hätten sehen dürfen. Zuerst dachten wir, er wäre irgendein Verbrecher, der seine Beute in dem alten Haus versteckt, aber dann hat ihn der alte John gesehen. Kinber hatte geheimnisvolle Apparate bei sich, die er sofort versteckte, als er John bemerkte. Wir haben schon immer gefürchtet, daß er Unheil über unser Dorf bringen wird, aber wir wagten nicht, etwas gegen ihn zu unternehmen.«

»Wo liegt das Haus, von dem Sie gesprochen haben?«

Der Wirt zuckte die Achseln. »Irgendwo im Wald. Niemand von uns geht gerne dorthin. Es ist eine verwunschene Stätte. Ein Fluch lastet darauf.«

»Aberglaube, das am besten gepflegte Volksgut«, bemerkte Dr. Sterling spöttisch.

»Vor einigen Tagen haben wir diesen Kinber in einer Londoner Zeitung gesehen. Da war ein Bild von ihm, und seither kennen wir seinen richtigen Namen.«

Chefinspektor Kenneth Hempshaw glaubte, vor Ungeduld zu platzen. »Dann rücken Sie endlich heraus damit! Wer ist Kinber in Wahrheit?«

Der Wirt beugte sich über die Theke und flüsterte dicht am Ohr des Chefinspektors:

»Er ist in Wirklichkeit Privatdetektiv, wohnt in London und heißt Rick Masters!«

»Das ist doch Unsinn!« fuhr Chefinspektor Hempshaw auf. »Das kann ich einfach nicht glauben.«

»Nein?« Der Wirt bückte sich und holte unter der Theke eine fleckige, zusammengefaltete Zeitung hervor. Er breitete sie auseinander und schob sie Hempshaw hin. »Sehen Sie sich das Bild genau an, und dann lassen Sie sich Kinber von allen Leuten hier im Dorf beschreiben.«

Hempshaw schob die Zeitung beiseite. »Ich kenne Rick Masters sehr gut«, sagte er ungehalten. »Und ich weiß, daß er für ein solches Verbrechen niemals in Frage kommt.«

»Sie wollen uns also nicht helfen, wie?« Wut, Enttäuschung und Verzweiflung schwangen in der Stimme des Wirts mit. »Und da heißt es immer...«

Der Chefinspektor erfuhr nicht, was es immer hieß.

Die Posten am einzig...

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