Gennifer Albin - Cocoon 1 - Die Lichtfängerin.pdf

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GENNIFER ALBIN
Die Lichtfängerin
Ins Deutsche übertragen
von Jakob Schmidt
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FÜR ROBIN, DER MICH AUFFORDERTE,
EIN BUCH ZU SCHREIBEN, UND FÜR JOSH,
DER ES WIRKLICHKEIT WERDEN LIESS.
PROLOG
Sie kamen in der Nacht. Früher wehrten sich die Familien, und die
Nachbarn eilten ihnen zu Hilfe. Aber jetzt, da Frieden herrscht und die
Allmacht der Webstühle bewiesen ist, beten Mädchen dafür, einberufen
zu werden. Heute kommen sie nur noch deshalb nachts, weil sie den
grabschenden Händen der Menge entgehen wollen. Eine Webjungfer zu
berühren, bringt Glück. Zumindest erzählt man uns das.
Niemand weiß wirklich, warum einige Mädchen die Gabe besitzen.
Natürlich gibt es Theorien. Dass sie vererbt wird. Oder dass kluge,
aufgeschlossene Mädchen zu jeder Zeit das filigrane Webmuster des
Lebens in der Welt um sich herum sehen können. Man sagt sogar, dass
es
ein
Geschenk
sei,
das
nur
denen
zuteilwird,
die
absolut
reinen
Herzens sind.
Aber ich weiß es besser. Es ist ein Fluch.
Seit meine Eltern gemerkt haben, dass ich über die Gabe verfüge,
üben sie nachts mit mir. Sie lehrten mich, tollpatschig zu sein. Ich
musste so lange mit Schüsseln und Krügen hantieren, bis es ganz natür-
lich aussah, wenn ich Wasser verschüttete oder etwas fallen ließ. Dann
trainierten wir den Umgang mit dem Zeitgewebe. Meine Eltern er-
mutigten mich dazu, die seidigen Fäden mit geschickten Fingern
aufzunehmen, nur um sie dann ineinander zu verheddern, bis sie
verknotet und nutzlos herabhingen. Das war schwieriger als das Fallen-
lassen und Verschütten. Meine Finger wollten die zarten Fasern nahtlos
mit der Materie verbinden. An meinem sechzehnten Geburtstag, als der
Zeitpunkt für die Prüfungen gekommen war, verstellte ich mich so
überzeugend,
dass
die
anderen
Mädchen
zu
tuscheln
begannen.
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Wahrscheinlich würde man mich gleich wieder nach Hause schicken,
flüsterten sie.
Unfähig.
Unbeholfen.
Untalentiert.
Vielleicht waren es die hinter meinem Rücken gezischten Be-
merkungen, die wie feine Messerstiche meinen Entschluss schwächten.
Oder das leise Lied des Übungswebstuhls, mit dem er mich anflehte, ihn
zu berühren. Heute, am letzten Tag der Prüfungen, geriet ich schließlich
ins
Schwanken
meine
Finger
fädelten
sich
elegant
durch
die
dahingleitenden Bande der Zeit.
Heute Nacht werden sie mich holen.
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