Juden in Memel.pdf

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Ruth Leiserowitz, Juden in Memel und Heydekrug im 19.Jh.
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Juden in Memel und Heydekrug im 19.Jh.
Vortrag in Klaipeda im Jahre 2001
Einleitung
Ostpreußen erlebte in der Mitte dieses Jahrhunderts kurz hintereinander zwei Vertreibungen.
Während die Aussiedlung der Deutschen heute breit thematisiert wird, herrscht weitestgehend
Schweigen über die Ausrottung der Juden in dieser östlichen Region. Nicht einmal in der
rekonstruierten Welt finden sie Platz - die ostpreußische Erinnerungsliteratur ist überwiegend
judenfrei. Leben und Verfolgung der Juden in Ostpreußen wurden bisher nicht als integraler
Bestandteil der regionalen Geschichte gesehen.
Ostpreußen war immer eine Grenzregion und erfuhr durch diese politische Geographie eine spezielle
Prägung. Auch dieses Grenzgebiet läßt sich als geographische Zone begreifen, in der kulturelle
Interaktionen festzustellen waren. Gerade auf der litauischen Seite kam es in diesem Streifen zu
dynamischen Entwicklungen
Die Geschichte des deutschen Judentums im 19. Jh. ist vorwiegend durch Migrationsprozesse zu
beschreiben. Am Anfang stand häufig der Übertritt von einer Kultur in die andere, dann folgten
Wanderungen vom Dorf in die Stadt, vom Osten in den Westen. Momentaufnahmen dieser
Migrationen wurden bereits beschrieben, doch jetzt soll erstmals konsequent der Weg von der
Ausgangssituation an verfolgt werden.
Juden lebten in diesem Landstrich, der den Kreis Memel des Regierungsbezirks Königsbergs und die
Kreise Heydekrug, Tilsit, Ragnit und Pilkallen des Regierungsbezirkes Gumbinnen umfaßte, seit dem
16. Jh., aber in nur geringer Zahl, vor allem an wichtigen Handelsorten, wie in Ruß an der
Memelmündung, einem zentralen Platz für den Holzhandel.
Im Gegensatz zu den litauischen Gebieten hinter der Grenze, in denen die Juden selten auf dem Land
lebten und sich vorrangig in kleinen Städtchen konzentrierten, siedelten sich die Juden in Ostpreußen
verstreut an - auch auf Dörfern, Einzelgehöften und Abbauten. Mit dem Grad ihres wirtschaftlichen
Erfolgs wanderten sie weiter in größere Ortschaften und Städte.
Insgesamt kamen Juden relativ spät nach Ostpreußen. Erst nach dem Edikt von 1812 setzte ein
breiterer Zustrom ein, der übrigens zuerst aus Westpreußen kam. Das genaue Ausmaß der jüdischen
Einwanderung zwischen 1815 und 1885 soll nicht feststellbar sein. Obwohl die jüdische Gruppe in der
Region numerisch nicht bedeutend war, stellte sie doch ein konstitutives Element dar. Während
beispielsweise 1905 ca. 95% aller Orte im Deutschen Reich überhaupt keine jüdischen Einwohner
hatten, gab es in Ostpreußen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. kaum ein größeres Dorf ohne Juden
und ohne jüdische Geschäfte. Es erfolgte ein ständiger Zuzug aus dem Ausland.
Neben der Beschreibung der alteingesessenen jüdischen Bürger spielten die Ostjuden eine Rolle -
besonders ab 1882, als nach den großen Pogromen im Zarenreich ein weiterer Zustrom russischer
Juden erfolgte. Daraufhin folgte 1885 eine breit angelegte Erhebung über den Aufenthalt
ausländischer Bürger in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches und deren Ausweisung in den
Folgejahren. Signifikanterweise wurden hier nur arme bzw. unvermögende Juden ausgewiesen. Die
wirtschaftlich erfolgreicheren erwirkten Ausnahmeregelungen.
Bei Betrachtung der Situation im Herkunftsort, jenseits der Grenze in Litauen, fällt auf, daß an diesen
Orten nicht nur die Zukunft in Preußen anvisiert, sondern generell eine Entscheidung zur
Auswanderung getroffen wurde. Es bewahrheitete sich die banale Feststellung, daß wer an der
Grenze lebte, auch hinüber wollte. Hier fanden Entscheidungen statt, die stark von wirtschaftlichen
Situationen geprägt wurden und immer rationale Schritte darstellten. Oft gingen Familienzweige sehr
verschiedene Wege. Generell vergrößerten sich die Wanderungsdistanzen. Einige reisten nach
Amerika, andere gingen nach Südafrika oder Palästina, und die Vermögendsten siedelten sich in
Ostpreußen an.
In westlicher Orientierung war die Grenzregion für ihre Bewohner attraktiv, da sie positive
Perspektiven versprach. Die "kurze" Lösung (kurz im Sinne der zu überwindenden Distanz gesehen,
unterschwellig aber auch im Sinne des sehr beschränkten Zeitraums begriffen), die gut kalkulierbar
erschien, bestand in dem Wechsel nach Preußen bzw. in das Deutsche Reich. Die Gruppe der
Zuwanderer, die hier ins Blickfeld rückt, sah in ihrem Grenzübertritt eine selbstgewählte Chance, eine
positive Lösung.
Heydekrug
Für den Kreis Heydekrug können alle Zuwanderungen für den Zeitraum 1886-1902 benannt werden
sowie die Reaktion der preußischen Behörden, die entweder einen Ausweisungsbefehl erließen oder
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befristete Aufenthaltsgenehmigungen erteilten, wobei auch Beschränkungen auferlegt wurden.
Ebenso ist der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vermerkt.
Es fällt auf, daß es sich bei den Zuwanderern vorrangig um Juden handelt, die aus der Zemaitija, dem
benachbarten Westlitauen stammen - also eine Migration mit kurzen Distanzen. (Darüber hinaus gab
es gleichfalls andere Zuwanderergruppen im gleichen Zeitraum. Deren Relation zu den jüdischen
Migranten sollte gleichfalls erörtert werden.)
Das wirtschaftliche Für und Wider bei der Ansiedlung von jüdischen Kaufleuten in den Augen des
preußischen Staates gibt ein Statement aus der Naturalisierungsakte des Meyer Israel Liebschütz aus
Neustadt von 1844 recht treffend wieder:
"Wenn auch durch die neuerrichtete Zollstation. in Neustadt sowie durch die Erbauung der Chausee
der Handel des Marktflecken Heydekrug- welcher letzterer nicht unmittelbar durch die Chaussee
berührt werden dürfte, einen erheblichen Aufschwung erhalten dürfte, so würde doch dem erwähnten
Bedürfnisse durch Ansiedlung inländischer christlicher und jüdischer Kaufleute in Heydekrug schnell
und vollständig abgeholfen werden, da dieser Ort in der Mitte zwischen zwei nicht unbedeutenden
Handelsstädten Tilse und Memel gelegen und an Handeltreibenden hier kein Mangel ist. Die Vortheile
aber, welche etwa dem diesseitigen Staate aus den Verbindungen des Herrn Israel mit jenseitigen
Kaufleuten erwachsen können, werden durch die eben damit zusammenhängenden Nachteile
mindestens aufgewogen. Denn es ist erfahrungsmäßig daß die sich hier ansiedelnden russischen und
polnischen Juden in Menge ihrer den Hausier- und Schmuggel- Handel treibenden und für das hiesige
Land anerkannten schädlichen Religionsverwandten aus dem Nachbarstaate herbeizuziehen pflegen
und dieselben nur zu gern gegen die zur Abwehr solcher Eindringlinge getroffenen Polizei Maßregeln
schützen."
Ein gewisses Handelsinteresse für die Hafenstadt Memel war stets vorhanden, wie verheilt es sich
aber mit dem Marktflecken Heydekrug? Mit welchen Vorteilen konnte er jüdische Bürger zur
Ansiedlung reizen? Einzig die Grenznähe war verlockend. Die ersten Juden im Kreis Heydekrug -
Holzhändler - siedelten sich in Ruß an der Memelmündung an. Das Leben der Juden in Ruß ist ein
eigenes Thema. Heydekrug wurde für Juden erst interessant, als die Kreisverwaltung von Ruß dorthin
überging. Die ersten Juden in Heydekrug stammten aus dem Bezirk Westpreußen und hatten dort ihre
preußische Staatsbürgerschaft erhalten. Da der Konkurrenzdruck in der Heimat , besonders im Bezirk
Marienwerder) zu groß wurde, suchten sie neue Betätigungsfelder und gerieten so bis an die
preußisch-litauische Grenze. Zu den ersten Ansiedlern in Heydekrug gehörte die Familie des Abraham
Jacob Jacobson, die 1819 zuzog. Wendel Selig Marcuse zog 1825 zu. Seine Familie stammte
ebenfalls aus Westpreußen. Die drei Brüder Wolff Seelig Marcuse, Mendel Seelig Marcuse, Israel
Seelig Marcuse aus Tietz in Westpreußen gingen schon 1812 nach Tilsit, wo sie erhebliche
Widerstände von Seiten des Magistrats gegen ihre Ansiedlung überwinden mußten . Sie beschwerten
sich bei der Litthauischen Regierung: "wir wollten unsern Wohnort von Tietz nach Tilse verlegen" "wir
haben uns auf Grund des erwähnten Edicts schon so eingerichtet, daß wir unsere Geschäfte von Tilse
aus betreiben wollen, wir werden durch die Zurückhaltung des Zeugnisses so sehr zurückgesetzt, daß
wir Gefahr laufen, unser Vermögen einzubüßen, besonders da Tietz von Tilse 70 Meilen entfernt ist." 1
Schließlich und endlich hatten die Brüder Erfolg, sahen aber rasch, daß nicht alle drei in Tilsit tätig
werden konnten. So zog Wendel Selig Marcuse weiter nach Heydekrug und begründete dort 110
Jahre jüdischer Familiengeschichte.
Die Juden handelten zuerst mit Holz, später erweiterte sich ihr Betätigungsfeld, und sie erwarben
Schenken und Geschäfte. Es handelten nicht nur die ansässigen Juden, sondern auch Grenzgänger
aus der Zemaitija.
Laut einer Verordnung vom 12. Dezember 1780, die am 14. Januar 1817 erneuert wurde, durften
fremde Juden nur ins Land kommen, wenn sie mit Fuhrwerk oder Reitpferd kamen oder wenigstens
50 Taler Bargeld mit sich hatten. Juden durften nur über die Zollämter Heydekrug, Koadjuthen,
Kallehnen und Schmalleningken einreisen. Der frühere Judenleitzoll wurde zum 1. Januar 1824
aufgehoben an stelle dessen mußte ein Geleitschein mit einer Gültigkeit bis zu 36 Tagen auf einem
Stempelbogen für 2 Taler 15 Silbergroschen gelöst werden.
Langsam wuchs die jüdische Gemeinde in Heydekrug, obwohl sie mit der Größe der Gemeinde in
Ruß nicht mithalten konnte. 1855 lebten 36 Juden in Heydekrug und 6 in Szibben, im gesamten Kreis
89 jüdische Personen mit preußischer Staatsbürgerschaft. 1880 war diese Zahl auf 332 angewachsen.
Für Heydekrug liegen leider keine Zahlen vor.
Zweifellos hatten diese Wanderungsbewegungen auch Einfluß auf familiäre Beziehungen. Für den
Kreis Heydekrug liegen Dokumente für alle jüdischen Eheschließungen zwischen 1848 - 1872 vor,
aus denen nicht nur hervorgeht, daß etwa 50% der dort ansässigen jüdischen Bürger in jenem
Zeitraum Ehen mit Frauen eingingen, die keine preußische Staatsangehörigkeit besaßen (sie
stammten u.a. aus Kuldiga in Lettland oder aus Wirballen, Sakiai, Siauliai und Wilna in Litauen). Die
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Aufgebotsakten, Leumundsscheine und Schriftstücke geben einen guten Einblick, wieviel Papiere und
bürokratischer Aufwand für das Schließen einer jüdischen Ehe in Preußen nötig waren.
1863 formierte sich in Heydekrug eine eigene jüdische Gemeinde. Als erster dortige Rabbiner versah
Israel Schatz den Dienst an der bescheidenen Synagoge. Synagoge und Friedhof sind nicht erhalten
geblieben.
Auf den ersten Blick wirkt die Migration im 19. Jh. wie eine Erfolgsstory. Die Wende kam sehr rasch -
ab 1885. Dann begann die preußische Regierung, Juden mit russischer Staatsbürgerschaft
auszuweisen, auch wenn sie schon lange in Preußen lebten. Ein Bleiberecht konnte sich oft nur
erkaufen, wer wirtschaftlich erfolgreich war und im Ort Einfluß besaß.
Nach welchen Erwägungen die Behörden vorgingen, zeigt der Auszug aus einer Akte zur
Naturalisierung eines Herrn Rogalsky :
"Der Familie Rogalsky, die die russische Staatsangehörigkeit besass und am 17. November 1873 hier
zuzog, ist im September 1886 die Aufenthaltsgenehmigung ohne Einschränkung gewährt worden.
Wenn Mitglieder der Familie Rogalski auch noch als Ausländer betrachtet werden , so sind sie als
solche doch nicht mehr tatsächlich zu behandeln. Die Ausweisung ist nicht mehr durchzuführen und
im Falle der Verarmung würde die Gemeinde aufkommen müssen. Der Gesuchsteller bezieht ein
Gehalt von cr.1200 Mark und hat ein Vermögen von cr. 18.000 Mark, er besitzt ein
Materialwarengeschäft, verbunden mit einer Gastwirtschaft und ist somit in der Lage, seine Mutter und
seine 5 unverheirateten Schwestern mit zu unterhalten. Das würde aber aufhören, wenn der
Antragsteller von hier verzöge. Es liegt deshalb im diesseitigen Interesse ihn hier zu halten...(...)"
Nur wenige Juden konnten mit derartigem Kapital aufwarten. Die meisten ohne Staatsbürgerschaft
wurden wieder zurück über die Grenze geschickt. Einige schafften es, nach Amerika oder Afrika
auszuwandern.
Einige Bemerkungen zu Juden in Memel vor dem 19. Jh.
Intensives jüdisches Leben konnte sich in Memel erst nach 1812 entfalten, als die liberale Stein-
Hardenbergsche Gesetzgebung in Kraft trat.
Vorher durften jüdische Kleinhändler nur zur Jahrmarktszeit in die Stadt kommen und in festen
Ständen ihre Waren anbieten. Die Zahl der jüdischen Händler war groß und wuchs jährlich. Eine Notiz
aus dem Jahr 1798 besagt, daß vierzehn neue Jahrmarktsbuden zur Vermietung an jüdische Händler
angeschafft werden mußten. Der Jahrmarkt geriet durch die große jüdische Händlerschaft bald zu
einer zweiwöchentlichen Verkaufsveranstaltung mit bedeutendem Warenumsatz. Unter den Käufern
befanden sich polnische Großgrundbesitzer und kurländische Barone. Russische Juden brachten vor
allem Pelze zum Verkauf. Jüdische Antiquare aus Deutschland boten hingegen viel hebräische
Literatur an, die nach Rußland exportiert wurde. In Rußland gab es nur wenige jüdische Druckereien,
deren Tätigkeit zudem stark durch die Zensur begrenzt wurde. Dadurch entstand ein Markt für
hebräische Bücher. Sogar ein Berliner Buchhändler, Avraham Goldberg betrieb zu Messezeiten einen
Buchstand in Memel. Während des Krimkriegs, als Rußland mit Ausnahme Preussens von allen
Seiten Handelsboykotte erfuhr, wurden auf der Messe von 1854 sogar 14.248 Juden gezählt. Später,
als sich die politische Situation in Litauen nach dem Aufstand von 1863 verschärfte, die Eisenbahn
entstand und die Zollgesetzgebung strenger wurde, nahm der Handel andere Wege und der Memeler
Jahrmarkt verkümmerte.
Was im Memel des 19. Jh. blieb
Es dauerte noch eine Weile, bis sich preußische Juden mit preußischem Bürgerrecht in Memel
niederließen. Die Stadt lag doch sehr abseits. Die litauischen Juden konnten sich hier auch nicht so
bequem ansiedeln, da es es ihnen an allen Einrichtungen für ihre religiösen Bedürfnisse fehlte. Diese
konnten aber Anfang des 19. Jh. nur von Juden mit preußischem Bürgerrecht eingerichtet werden.
Zu den ersten mit Bürgerrecht ansässigen Juden gehörte die Familie des Bär Cohn mit ihren drei
Söhnen Jossel, Aron und Samuel, die aus Tauroggen stammten. Welche Kriterien eine Rolle für die
Verleihung des Staatsbürgerrechtes an Juden spielten, zeigt der nachfolgende Auszug aus der Akte
des Handelsmann Isaak Schmul aus Russisch Krottingen, der 1812 beantragte, Bürger von Memel
werden.
Da schreibt die Polizeideputation der Litthauischen Regierung in Gumbinnen am 15. November 1812:
"haben wir sofort den Polizeidirektor Felsche zu Memel beauftragt, sich über die Vermögenslage und
sonstigen Umstände des Impetanten [des Bittstellers - d. Verf.] Überzeugung zu verschaffen und
Anzeige zu machen. Der Fleische hat uns anliegende Originalverhandlung vom 9. d. M. eingereicht
nach welchem der Isaak Schmul 3000 Th. baar und außerdem in Gold und Silber Geräthe noch in
Meubles gemäß 1000 M besitzet. Eine Kunst oder Profession versteht er zwar nicht, er stehet aber mit
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den ersten Memelschen Handlungshäusern in Verbindung, ist ihnen seit 28 Jahren bekannt und von
ihnen geschätzt und wird noch jetzt mit Vertrauen behandelt. Daß er ein Vermögen von 1000 M und
viel Gold und Silber Geräthe besitzt, hat der Flesche nach seinem Bericht bei näherer
Nachforschung bestätigt gefunden, so wie es auch hiernach gegründet ist, daß dieser Jude das
allgemeine Zutrauen der Memelschen Kaufleute hat, und obgleich er bloß jüdisch schreiben kann,
doch nicht zu den gemeinen Juden gehört. Hiernach glauben wir, unserem früheren Antrage vom
20.9. zu folgen auf die Ausfertigung des Naturalisationspatents für ihn antragen zu dürfen." 2
Der Reichtum des Antragstellers überzeugte und am 23. Februar 1813 wurde der Familie des Isaac
Schmul das Naturalisationspatent oder, wie wir heute sagen würden, die Urkunde zur Anerkennung
der Staatsbürgerschaft, ausgehändigt.
Doch die Memeler Behörden sahen streng darauf, daß die Anzahl ansässigen Juden - ob mit oder
ohne Kapital - nicht zu groß wurde.
In den nächsten Jahren wurden sämtliche Anträge jüdischer Kaufleute auf Niederlassung in Memel
abgelehnt. So 1816 der von dem aus Danzig stammenden zwanzigjährigen Kaufmann Julius Ludwig
Wiener oder 1820 der von Abel Israel Rubinowitz aus Bauska in Kurland, der eine jüdische Garköchin,
wohnhaft am Friedrichsmarkt, ehelichen wollte. 1835 klagte der Schneider aus Freystadt Schmerl
Moses Linde über die Hartherzigkeit des Magistrats und selbst der in London ansässige reiche
Kaufmann Fredie Barnett wurde ein Jahr später mit seinem Niederlassungswunsch abgewiesen.
Mit der Zeit kamen immer mehr russische Juden zu Geschäften nach Memel, vor allem Holzhändler.
Sie kamen im Herbst - vor den hohen jüdischen Feiertagen - und blieben bis Januar. Sie brachten ihre
Köche und Schächter (koschere Fleischer) mit, die aber vor Ort nur Geflügel nach den jüdischen
Speisegesetzen töten. Anderes rituelle zubereitetes Fleisch wurde über die nahe Grenze
geschmuggelt. Die Familie Cohn, die sich als erste ständig in Memel angesiedelt hatte, sorgte
ebenfalls für einen Schächter, Jossel Vald, der auch aus Tauroggen kam. Später übernahm sein
Schwiegersohn Jesajah Wohlgemuth das Amt und wurde übrigens auch Rabbiner.
1855 lebten bereits 289 Juden in Memel und ihre Zahl vergrößerte sich bis 1867 auf 887.
Bevor ein jüdischer Friedhof in der Stadt errichtet wurde, wurden die Juden in anderen preussischen
Städten oder in Gargzdai beigesetzt. Natürlich waren alle diese Leichentransfers mit großem
bürokratischen und finanziellen Aufwand verbunden. So verwundert es nicht, wenn man hört, daß ein
jüdischer Händler, der plötzlich während der Messe verstarb, angekleidet in eine Kutsche gesetzt,
eskortiert von links und rechts mit brennender Pfeife im Mund rasch zurück über die Grenze gebracht
wurde.
1858 verlangte die preußische Regierung, daß die russische und deutsche jüdische Gemeinde in
Memel zwangsvereinigt werden müsse. Nach dem preußischen Gesetz über die jüdische Autonomie
von 1847 hatte jeder Jude der Gemeinde anzugehören und war ihr steuerpflichtig. 1862 wurde die
Einigung offiziell vollzogen . Trotzdem existierten weiterhin quasi zwei Gemeinden mit verschiedenen
religiösen Ansprüchen .
Die Zahl der Juden wuchs ständig und belief sich 1875 schon auf 1.040 Personen.
religiöse Einrichtungen
Die erste religiöse Einrichtung, die für die Memeler Juden errichtet wurde, war der Friedhof, auf dem
1823 die erste Bestattung ausgerichtet wurde.
1835 wurden auf Initiative der Kaufleute Mordechai Wasbutzky und Meir Lifschitz die sogenannte
"polnische Schul", also eine Synagoge und dazu ein Tauchbad errichtet. Diese Einrichtungen waren
vor allem für die russischen Kaufleute bestimmt, die nur einen Teil des Jahres in Memel weilten.
Dieses Gotteshaus befand sich in der Wallstraße, wo der Kaufmann Wasbutzky einen Speicher
besaß, den er für diese religiösen Zwecke herrichten ließ. Die litauischen Juden errichteten auf dem
Grundstück des christlichen Kaufmanns Klingenberg in der Baderstraße ein Lehrhaus, das auch als
Bethaus diente. Bald wurde es zu klein und man fand in der gleichen Straße, auf dem Grundstück
gegenüber einen geeigneten Bauplatz. 1875 wurde das neue Bethaus, der sogenannte "Beth-
Midrash" eingeweiht. Die deutschen Juden hatten ihr eigenes Betlokal. Nach dem Brand von 1854
befand es sich in dem Haus Bäckerstraße 11/12, das dem Kaufmann Meyer Levy gehörte. 1886 kam
der Bau einer deutschen Synagoge in der Kehrwiederstr. zustande. Trotzdem reichte an hohen
Feiertagen der Platz in den drei jüdischen Gotteshäusern nicht aus und es mußten weitere
Räumlichkeiten gemietet werden. 1871 wurde ein jüdisches Krankenhaus eingerichtet. Insbesondere
sollte dieses Krankenhaus auch mittellosen Juden zur Verfügung stehen, die aus den naheliegenden
Grenzbezirken kamen, um in Memel ärztliche Versorgung zu erhalten.
Ruth Leiserowitz, Juden in Memel und Heydekrug im 19.Jh.
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1896 wurde mit großer finanzieller Unterstützung der Baronin Clara von Hirsch (Paris) und Jacob
Plaut (Nizza) ein neues Krankenhausgebäude auf der ehemaligen Stadtumwallung angelegt und
eingeweiht.
Rabbiner
Der große rabbinische Schriftgelehrte Israel Lipkin Salant , der Begründer der Mussar-Bewegegung
verbrachte in der Stadt 20 Jahre (1860-1880 ). Er gründete 1861 eine Gesellschaft der
Gemarastudenten und gab ein Wochenblatt unter dem Titel "Hatvunah" (Weisheit) heraus, in dem
bekannte Rabbiner neue Kommentare veröffentlichten. Darüber hinaus schrieb er zwölf Broschüren,
die in einer jüdischen Druckerei in Memel veröffentlicht wurden.
1862 wurde in dieser eher heterogene Gemeinde der erste Rabbiner angestellt - Dr. Isaak Rülf (1834-
1902). Er war ein hervorragender Gemeindeorganisator, tat viel für die religiöse Erziehung, gründete
eine jüdische Armenschule und das jüdische Krankenhaus. Natürlich war er geistiger Leiter des
deutschen Elements. Ein Teil der russischen und polnischen Juden ignorierte ihn. Aber als Dr. Rülf
1869 mit der Gründung des Unterstützungs-Commites für die Israeliten der benachbarten russischen
Grenze sein großes philanthropisches Werk begann, erfuhr er auch von den nichtdeutschen Juden
viel Achtung. Der Rabbiner erlangte große Bekanntheit und internationale Bedeutung durch seine
Hilfsaktionen und erwarb sich so den Spitznamen "Dr.Hülf". Darüber hinaus fand er noch Zeit, einige
philosophische Werke zu verfassen und Beiträge für jüdische Zeitungen zu schreiben.
Von 1872 bis 1898 war der Memeler Rabbiner Chefredakteur und alleiniger Schriftleiter des Memeler
Dampfbootes. Seit 1896 gab es, gleichfalls von Dr. Rülf begründet, in Memel eine Gesellschaft
"Kiryath Sefer" zur Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte und Literatur.
Ihm folgte im März 1898 der 25-jährige aus Lübeck stammende Emanuel Carlebach. Zu seinen ersten
Tätigkeiten gehörte die Neuorganisierung und Erweiterung des jüdischen Schulwesens. Seiner
Initiative ist die Entstehung der Israelitischen Religionsschule zu verdanken. Carlebach hatte die
Rabbinerstelle bis 1904 inne. Zu seinen interessantesten Erfahrungen in Memel gehörte die
Begegnung mit dem litauischen Judentum , u.a. mit Rabbi Gabriel Feinberg, und den litauischen
Talmudgelehrten. Hier eröffnete sich ihm eine neue Welt und auch noch später, als Carlebach bereits
in Köln amtierte, besuchte er die Talmudgelehrten in Memel.
Die Ereignisse der achtziger Jahre
"Die Mehrheit der Memeler Juden bestand (am Ende des 19. Jh.) aus russischen und polnischen
Juden, und nur zu einem Fünftel aus deutschen Juden" schreibt Dr. Rülf in seinen Erinnerungen.
So ging es ungestört bis 1880. Das Jahr 1881 markierte in der moderneren jüdischen Geschichte
einen entscheidenden Wendepunkt. Ausgelöst durch Pogrome in Rußland begann eine große
Auswanderungsbewegung der dortigen Juden. Obwohl es in Deutschland auch öffentliche
Solidaritätsbekundungen mit den verfolgten Juden gab, die aber zum größten Teil aus liberalen
Kreisen stammten, standen doch konservative und antisemitische Stimmen im Vordergrund. Der
preußische Innenminister Robert von Puttkamer wies die Oberpräsidenten der vier preußischen
Ostprovinzen an, russischen Untertanen die deutsche Staatsangehörigkeit nur noch in
Ausnahmefällen zu gewähren. Viele russische Juden lebten in Ostpreußen seit Jahrzehnten in
Ostpreußen, so auch in Memel, besaßen aber weder eine preußische Staatsbürgerschaft noch eine
gültige Aufenthaltsgenehmigung, da sie bis zum Puttkamerschen Erlaß nicht zwingend notwendig war.
Nun schnappte die Falle mit unerbittlicher Härte zu.
1885 traf ein Regierungserlaß in Memel ein, daß sämtliche ausländischen Juden binnen kurzer Frist
die Stadt zu verlassen hätten. Unter den Auszuweisenden befanden sich viele, die schon 20-40 Jahre
am Ort lebten. Der Rabbiner Dr. Rülf setzte alle Hebel in Bewegung und wandte sich dreimal an
Bismarck. Schließlich wurde ein Kompromiß erzielt, daß jeder der Auszuweisenden, der der Stadt und
dem Memeler Handel nützlich sein könne, in der Stadt bleiben dürfe, wobei die Kaufmannschaft die
Auswahl der Bleibenden treffen dürfe. So gelang es, den Schaden für die Stadt den Handel und die
jüdische Gemeinde zu begrenzen. Hatte sich der Magistrat im ersten Drittel des Jahrhunderts noch
sehr mißtrauisch gegenüber ansiedlungswilligen Juden verhalten, wußten die städtischen Behörden
jetzt das jüdische Kapital der Stadt zu schätzen. Insgesamt 700 Personen wurden aus den Kreisen
Memel und Heydekrug ausgewiesen. Hatten 1880 noch 1.214 Juden in Memel gelebt, sank ihre Zahl
auf 861 im Jahr 1890. Viele der Ausgewiesenen konnten aus diversen Gründen nicht nach Rußland
zurück und versuchten ihr Glück in den USA. Sie schifften sich im Memeler Hafen ein und gelangten
via Hamburg auf einen Überseedampfer.
Von diesem heftigen Aderlaß konnte sich die jüdische Gemeinde lange nicht erholen.
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